Freie Fahrt für freie Fahrräder

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“Fahrrad-Protest Party, Protest und Autos im Stau: “Critical-Mass”-Fahrten durch Berlin

Fr 25.10.24 | 07:13 Uhr | Von Hendrik Schröder

Jeden letzten Freitag im Monat fahren bis zu 5.000 Radfahrende als “Critical Mass” durch Berlin und verursachen teils große Staus – ohne Anmeldung, ohne Straßensperrungen. Warum machen sie das – und ist es überhaupt erlaubt? Von Hendrik Schröder

Es ist der letzte Freitag im September kurz vor 20 Uhr. Zu Hunderten strömen Menschen auf Fahrrädern aus allen Richtungen auf den Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg. Auf Lastenrädern, Klapprädern, Rennrädern, Mountain – und E-Bikes. Familien mit Kindern sind dabei, Radfreaks in voller Montur mit blinkendem Helm und Warnweste, junge Paare, Rentner. Einige haben batteriebetriebene Lautsprecher auf den Rücken oder auf den Gepäckträger geschnallt. Elektrobeats ballern. Manche trinken Bier.

Thorsten aus Schöneberg ist mit seiner kleinen Tochter Sophie mit einem stylishen, langgezogenen Lastenrad gekommen. Seit über vier Jahren fahren die beiden fast jeden Monat mit. Die Kleine sitzt vorne drin, Thorsten strampelt.

Kirsten, die in Allwettersachen auf die Abfahrt wartet, wurde von ihrer Freundin überredet, mitzufahren. Sie möchte ein Zeichen setzen, für eine fahrradfreundlichere Stadt, sagt sie. Max, keine 18 Jahre alt, ist mit ein paar Kumpels zusammen auf Trickbikes gekommen und führt auf dem Lenker sitzend einige Kunststücke auf.

Party oder Politik?

Für die einen ist die “Critical Mass” also Action und Party, für die anderen einfach zusammen Rad fahren und für noch andere ein politisches Zeichen. Diese Diversität ist es, die den Fahrradkorso für viele so attraktiv macht, dass er mittlerweile sogar in manchen Reiseführern steht unter dem Punkt “Was Du in Berlin auf keinen Fall verpassen darfst”.

“Critical Mass” – übersetzt kritische Masse – steht in diesem Zusammenhang dafür, dass wenn eine bestimmte Masse an Radfahrenden zusammenkommt, sie dann so mächtig ist, dass neue Regeln gelten. Dass man zusammen stark genug ist, um sich den Platz auf der Straße zu nehmen, der sonst fast immer den Autos vorbehalten wird. So ungefähr sagen es viele an diesem Abend.

Und schon gibt es Stress

Dann geht es los. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, setzt sich der Korso in Bewegung, langsam geht es die die Waldemarstraße hinunter. Wie viele mitfahren ist schwer zu schätzen, der Strom an Rädern ist endlos. 1.000? 2.000? In den Sommermonaten sind es manchmal bis zu 5.000, die mitfahren. Und die ersten sind noch keine 300 Meter weit gefahren, da gibt es Ärger. Ein Lieferwagenfahrer lässt die Hand nicht mehr von der Hupe. Plötzlich eingekesselt von Radfahrern schreit er wütend aus dem Fenster: “Ich muss zur Arbeit! Was soll das?” Immer wieder versucht er langsam anzufahren. Ein Radfahrer aus der “Critical Mass” stellt sich ruhig vor seine Motorhaube und hindert ihn am weiterfahren, bis die vielen, vielen Fahrräder vorüber sind. Schnaubend drückt der Fahrer dann aufs Gas.

Ist das erlaubt?

Spätestens an dieser Stelle stellt sich nicht nur dem hilflos eingekesselten Mann im Lieferwagen die Frage: Dürfen die Radfahrer das? Unter welchen rechtlichen Bedingungen findet so eine Veranstaltung eigentlich statt? Denn: Die “Critical Mass” ist keine angemeldete Demonstration. Termin und Treffpunkt stehen im Internet und dann kommen die Menschen einfach dahin. Die Idee kommt aus den USA, seit über zehn Jahren findet sie Nachahmer auf der ganzen Welt, auch in Berlin. Es gibt dabei keinen Veranstalter, keinen Verantwortlichen. Es gibt niemanden, der im Voraus die Route vorgibt. Wer vorne fährt, der oder die entscheidet: links, rechts, geradeaus. Ist das alles erlaubt? “Ja”, sagt der Berliner Fachanwalt für Verkehrsrecht Roman Becker, “der Hintergrund des Ganzen ist Artikel 8 des Grundgesetzes, die Versammlungsfreiheit. Jeder darf sich friedlich und ohne Anmeldung versammeln. Und das ist das, was die machen. Deswegen ist es grundsätzlich erst mal erlaubt”, erklärt der Jurist.

Jubel und Mittelfinger

Zurück auf die Straße. Die “Critical Mass” biegt jetzt in den Kottbusser Damm ein. Rad an Rad schlängelt sie sich wie ein großer Organismus in die Kurve. Dicht an dicht. Ketten surren, Klingeln schellen. An den Seiten stehen Menschen, klatschen, jubeln und filmen mit ihren Handys. Andere recken den Mittelfinger und beschimpfen die Radfahrenden mit Kraftausdrücken. Auf einer Kreuzung kommt es fast zu einer Schubserei.

Zwei Männern springen wütend aus einem Mercedes und reden auf einen Radfahrer ein, der ihnen den Weg versperrt. Doch der Radfahrer bleibt erstaunlich ruhig und erklärt, warum er das macht und dass es wirklich keine gute Idee sei, sich zwischen dem Pulk von Radfahrern mit einem Auto durchzwängen zu wollen. “Eine Frechheit ist das”, schimpfen sie, “wir haben grün und der versperrt mir den Weg”.

Und der Autofahrer hat Recht: Die Radfahrer rollen tatsächlich zu Hunderten bei rot über die Ampel. Allerdings ist das legal, wie Anwalt Roman Becker erklärt: “Diese Fahrräder, ob das nun 15 oder 500 sind, gelten als ein Fahrzeug, wenn sie zusammen fahren. Dann gilt eine ganz interessante Besonderheit. Wenn das erste Fahrrad bei einer grünen Ampel rüber fährt und die Ampel schaltet zwischendurch auf rot, dann dürfen alle anderen Fahrräder trotzdem weiterfahren”, erläutert Becker. Das führe dazu, dass die Autofahrer den Eindruck hätten, sie hätten grün und die Radfahrer rot und eigentlich anhalten müssten. “Nein, die Straßenverkehrsordnung sagt in diesem Fall: Das ist ein Fahrzeugverband und der darf durchfahren, bis das letzte Fahrzeug durch ist.”

Aus Spaß Stau verursachen?

Links und rechts des klingelnden Pulks von Fahrrädern bilden sich in den Nebenstraßen Staus. Nicht immer wissen die Fahrer, warum es nicht weiter geht. Es wird gehupt, wild gewendet, geschimpft, die Stimmung am Rand ist oft weniger partymäßig als mittendrin. Dass die “Critical Mass” offenbar mutwillig und ohne Grund am Freitagabend den Autoverkehr behindert, sehen die meisten Radaktivisten naturgemäß anders. Zum Beispiel Radfahrerin Jule: “Was ist denn Verkehr? Wenn wir jetzt versuchen zu reglementieren, wer aus Spaß fährt und wer fahren muss, ist das kein gültiges Argument. Ich frage auch keinen Autofahrer: Musst Du jetzt fahren?”

Und auch das gehört zur Wahrheit: Für viele der Radfahrenden ist der “Critical Mass” am Freitag der einzige Tag im Monat, an dem sie sich auf dem Rad in der Stadt rundum sicher fühlen. Geschützt von der Masse. Ohne ständig auf der Hut zu sein, ohne immer wieder in lebensgefährliche Situationen zu kommen. Die monatliche Fahrt mit der “Critical Mass” ist da auch eine Art Kompensation, so berichten es nicht wenige der Teilnehmer:innen.

Die Polizei wird etwas hektisch

Der lange Zug von Fahrrädern ist mittlerweile an der Grenzallee in die Nähe der Stadtautobahn gefahren. Die dem Augenschein nach rund 20 Polizisten, die den Pulk bisher entspannt und eher beobachtend auf ihren Motorrädern begleitet haben, werden an diesem Punkt etwas hektischer. Für die Berliner Polizei ist der monatliche Fahrradkorso längst Routine. Sie begleitet den Zug, ahndet gegebenenfalls Ordnungswidrigkeiten auf Seiten der Radfahrer oder Autofahrer, ist präsent und sichtbar, greift aber kaum ein.

Denn wie beschrieben: Das hier ist keine angemeldete Demo, die von der Polizei gewissermaßen geschützt wird. Die Polizei sorgt allerdings dafür, dass, so die Pressestelle, “an prognostizierten Brennpunkten Maßnahmen zur Gefahrenabwehr veranlasst werden”. Was zum Beispiel bedeutet, dass sie hier an der Grenzallee die Autobahnauffahrt dicht machen, damit der Pulk nicht auf die Idee kommt, die Radtour auf der A100 fortzusetzen. Und obwohl die Kommunikation zwischen Radfahrenden und Polizei auf ein Minimum beschränkt bleibt: Echte Konflikte gibt es nach Aussagen beider Seiten selten.

Höhepunkt an der Siegessäule

Und so geht auch diese “Critical Mass” wenig später weitestgehend friedlich an der Siegessäule ihrem Höhepunkt entgegen. Wenn tausende Radfahrer johlend und klingelnd immer wieder im Kreis fahren, die Boxen beben und von einem Fahrrad sogar große Seifenblasen in die Menge gepustet werden und die lächelnden Gesichter sagen: So schön könnte es sein. Während rund um den Großen Stern die Autos im Stau stehen.

Sendung: rbb24 Inforadio, 22.10.2024, 09:25 Uhr

Beitrag von Hendrik Schröder”.

Quelle: https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2024/10/berlin-critical-mass-radfahrer-stau-autoverkehr.html