Aus konkret:
“DER LETZTE DRECK
Heft 8/23
[Über] Hugo von Hofmannsthal: »Jedermann«
[Von Richard Schuberth]
»Habt ihr auch richtig verstanden den Bot?«
Dicker Vetter in »Jedermann«
Künstliche Intelligenz ist fürwahr keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. In Ermangelung der geeigneten Teufelsapparate mussten unter Aufbietung all ihres titanischen Opportunismus einst Menschen aus Fleisch und Blut in Monaten mühselig montieren, was der Maschin’ fürderhin in Sekunden gelingen wollt’. Die Mär ist schnell erzählet:
Gevatter Kulturmarkt hieß den Junker von Hofmannsthal / Zu knitteln ein’ Schwank übers erzmenschlich Existential / Zu verbotten Hans Sachs und Everyman’s Morality Story / Mit einem Gran Vanitas und einer Unze Memento-o mori / Auf Neugotisch und ewig wie das Rathaus zu Wien / Sei den Reichen per Sühne ihr Reichtum verziehn / Wie befohlen alchemisierte der Büttel ohn’ Zag und behende / Sein unverrottbares literarisch Einweggebinde.
1911, im Jahr der Uraufführung des »Jedermann« in Berlin, spottete Karl Kraus: »Wunder der Natur! Die Kunstblumen des Herrn von Hofmannsthal, die um 1895 Tau hatten, sind nun verwelkt.« Kraus’ Satire, die in Hofmannsthals antiquiertem Sprachnippes dankbare Objekte fand, war bereits selbst antiquiert, nicht Echtheit oder Künstlichkeit bestimmte den Wert der Blumen, sondern die Vase, in welcher echte wie falsche verkauft wurden. Kraus wusste noch nichts von den Salzburger Festspielen. Als Hofmannsthals Stammregisseur Max Reinhardt 1922 dort im selben Stil dessen nächstes neokatholisches Erbauungsspektakel, »Das große Welttheater«, aufführte, nannte Kraus es »einen aberwitzigen Dreck«. Den »Jedermann« somit für eine Rubrik namens »Der letzte Dreck« zu verreißen, hieße bloß, Kraus’ Kritik zu wiederholen. Etwas zeitgemäßer, aber auch nicht neu wäre die Analyse des Theaters, das um dieses Theater gemacht wird.
Die unwichtigsten Aspekte des Mysterienspiels – Form, Inhalt und moralische Botschaft – lassen sich kurz umreißen als der streberhafte Ehrgeiz, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, des ersten großen durch Reibung von Hyperakkumulation, Imperialismus und Nationalismus entzündeten Flächenbrands der Moderne, das Bedürfnis nach Regression und Realitätsflucht mit der Wiederverwurzelung in einer geschichtslosen katholischen Ordnung zu befriedigen, in der Armut und Reichtum die unverzichtbaren Pole sind, zwischen denen der ewige Zyklus von Selbstsucht, Hybris und Buße vor der Gnade Gottes Ringelreih macht. Aber ebenso schlecht gefakt wie das pseudofrühbarocke Deutsch geriet das Imitat des vormodernen Settings. Denn aus dem »Jedermann« spricht ein recht rezenter bürgerlicher Individualismus, der Ungerechtigkeit zur Charakterfrage erklärt und das Gespenst Gottes, an dessen Stelle er sich gesetzt hat, nur aus der Requisite holt, um sich selbst Absolution zu erteilen. Hatten die volkstümlichen Vorbilder um 1500 noch die Funktion, das aus der metaphysischen Ordnung ausbüxende Subjekt wieder dorthin zurückzuscheuchen, wurde diese Ordnung nun auf den Trümmern der Vernichtung als Theaterkulisse wiederaufgebaut, in der die Herren über Kapital und Schöpfung Demut mimten und den Erzbischof die Glocken dazu läuten ließen.
Herr Jedermann kommt jedenfalls billig davon. Er muss sein Vermögen weder dem Waisenhaus noch der örtlichen Sozialistensektion spenden, sondern bloß vor Gott zu Kreuze kriechen, um in eine präsentable Wohngegend namens Himmel übersiedeln zu dürfen. So lachhaft kann ein Moralstück wie das von Hofmannsthal nicht sein, als dass der Teufel darin nicht bella figura macht: Als einziger protestiert er gegen diesen Kuhhandel – vergeblich.
Die romantische Restauration des Katholizismus, mit der sich die Juden Hofmannsthal und Reinhardt den reaktionärsten Teilen des Bürgertums anbiederten, mochte eine humanere Antimoderne zeitigen als der Antisemitismus, es nützte ihnen nichts. Das würdevolle, zum gütigen Gott hochschielende Pathos des Memento mori wurde unter bestialischem Hohn in fließbandmäßigem Massenmord eingestampft. Danach ging alles wie gewohnt weiter.
Hofmannsthals äußerster Vorstoß in die Moderne war sein Liebäugeln mit Mussolini, doch dürfte er den katholischen Unfug wirklich geglaubt haben, ließ er sich doch in einer Franziskanerkutte bestatten. Der Höhe der Zeit etwas näher war Reinhardt, ziemlich unbarock nannte er den »Jedermann« einen »Smash Hit«. Damit war das Stück von seiner Funktion als ständische Propaganda in seine nächste Evolutionsstufe aufgestiegen, wo es seither als sinn- und ideologieentleertes Zombieevent in Endlosschleife wiederkehrt. Hier hört jede inhaltliche Kritik auf, so man nicht erkennt, dass es genau dort ist, wo es hingehört: in einer kulturellen Bedürfnisanstalt namens Salzburger Festspiele. Doch – Zeichen und Wunder! – enttarnt sich das Drama gerade wegen seiner schillernden Scheißdreckhaftigkeit als ordensverdächtiger Doppelagent, der – ein Satiriker contre cœur – den ganzen Kulturbetrieb seiner schillernden Scheißdreckhaftigkeit überführt. Und ergötzt uns nicht nur mit der Komik, dass Leute, die sich Karten für die Premiere weder leisten können noch wollen, eher wissen, welcher Star die neue Buhlschaft gibt als wer den neuen Bond, sondern entlarvt alle Versuche, den Dreck auf progressiv zu kneten – ob Jedertranse, Dadamann, Technoparty, Kopftuchbuhlschaft oder postdramatischer Textflächenrap, ob Piketty als Mammon, Bolsonaro als Jedermann und Mithu Sanyal als fahrig gestikulierender Tod im Flüchtlingscamp (Milo Rau macht’s möglich!) oder drei Takte »Internationale« aus dem Orchestergraben –, entlarvt all das als abgetragene Requisiten aus derselben Garderobe, in der auch Jedermanns verstaubtes Renaissancewams hängt. Der ganze kulturindustrielle Leerlauf ist ein Mysterienspiel höherer Ordnung, zu dem akademisierte und journalistische Diskurspfaffen ihre Weihrauchkessel schwingen. Diese Kulte zu entzaubern, diesen Sinnstiftungen die Konten zu sperren wäre ebenso Aufgabe radikaler Aufklärung wie eine Kapitalismuskritik, die mehr kann, als Jedermann zu bitten, dem Gemeinwohl ein bisschen mehr Kohle zu kredenzen anstatt sie im Steuerparadies Himmel zu parken. Solange Kritik aus diesen Bannkreisen nicht heraustritt, ist’s dem Teufel nicht zu verübeln, wenn er wie im »Jedermann« sagt: »Ich geb es auf, ich kehr mich um, / Ich lass ihn, füttert ihn euch aus, / Mich ekelt’s hier, ich geh nach Haus.«
Richard Schuberth”
Aus: konkret
Quelle: https://konkret-magazin.de/37-leseproben/812-der-letzte-dreck-2
Autor, Urheber: Richard Schuberth